HTML5 / CSS3
… Schmidts Musik ist durch und durch modern;
das heißt, sie gibt akustische Verdichtungen
heutiger Realitätserfahrung und vergegenwärtigt
Gefühle, Passionen, Reflexionen und Visionen
dieser Zeit. Dabei zeigt er sich wenig bekümmert
um technische Moden oder bestimmte
handwerkliche Standards, die irgendwo als up to
date gelten. Sie ist wohl durchkonstruiert nach
strengen, oft zwölftönig gegründeten Regeln,
aber stärker reguliert vom spontanen Drang nach
eigenwilligem Ausdruck. Seine Musik tendiert zur
polyphonen Vernetzung von Strukturen, zu
oftmals chaotisch anmutenden Bündelungen der
Stimmen im Detail, doch andererseits gruppiert
und entwickelt sie sich zum ausgeschöpften,
stimmig gerundeten Bogen im Rahmen relativ
einfach überschaubarer Dramaturgien. Sie
wurzelt schließlich in der begriffslosen Rhetorik
romantischer Expressivität zwischen dem
Aufschrei der Verzweiflung und der Persiflage
komödiantischer Lebenslust, begeift sich dabei
aber meistens doch als leidenschaftliches
Psychogramm der mehr oder weniger
verschwiegenen persönlichen Stimmungen und
Betroffenheiten. Dies verlangt eine gewisse
epische Ausführlichkeit der Darstellung wie
besondere Vorkehrungen zur lyrischen
Verschlüsselung, obwohl in Schmidts Musik,
gleichsam unterirdisch, stets eine dramatische
Fiber wirkt, die gewiß einmal zur Bühne drängt.
Denn das Aussprechen innerster Gedanken in den
absoluten Formen der Instrumentalmusik bildet
nur einen Pol seines Schaffens. Der andere, im
Wechsel dazu, bezeichnet das Bedürfnis nach
synästhetischem Ausdruck, nach
grenzüberschreitenden, vor allem literarisch
inspirierten Darstellungsmitteln und nach der
möglichst deutlichen, ja eindeutigen Formulierung
von Gehalten, denen im weitesten Sinne
politische Relevanz zukommen und die als
moralische Appelle an die Gesellschaft verstanden
werden sollen. Davon sind viele Werke inspiriert,
die zum Bereich der vokalen Kammermusik und
der Vokalsinfonik gehören. Gerade hier bedient
sich der Komponist eines reichen Spektrums der
Genres und Inhalte, wobei oft biblische Texte den
wichtigsten gedanklichen Bezugspunkt bilden …
(In: Frank Schneider, Christfried Schmidt,
Broschüre des Deutschen Verlages für Musik,
Leipzig 1987)
Christfried Schmidt
Ein fanatischer Wahrheitssucher
Der Berliner Komponist Christfried Schmidt. Er
sollte mit seiner unbequemen Musik, die dem
DDR-Komponistenverband wenig behagte, in eine
Außenseiterrolle abgedrängt und eigentlich nur
mit “abgegrenzten Aufgaben” bedacht werden.
Was nun auch bei einer Tagung der
Musikakademie Rheinsberg zum Thema “Musik im
stillen Widerstand” deutlich wurde. Aber ganz
verhindern ließ es sich nicht, dass ab und an ein
Werk des Berliner Komponisten Christfried
Schmidt gespielt wurde. Und so lag dann auch
stets eine besondere Spannung über einem
Abend, an dem ein schon vor vielen Jahren
(Schmidt kann einen Berg unaufgeführter
Partituren vorweisen) oder - in den seltensten
Fällen - auch mal ein kurz zuvor entstandenes
Werk von ihm gespielt wurde. Welch lebhafte,
widerstreitende Publikumsreaktion zum Beispiel
im Schauspielhaus Berlin nach der Aufführung
seiner Orchestermusik I (1985)!
… Selten wurde in der neuen Musik der einstigen
DDR mit solcher Heftigkeit und Unerbittlichkeit,
aber auch mit solcher Zartheit “gesprochen” wie
in dieser Orchestermusik von Christfried Schmidt.
Und dies ausgerechnet während der damaligen
DDR-Musiktage 1988, bei denen sich auch offiziell
das sozialistische Musterländle im günstigen Licht
darstellen wollte. Dabei ist auch dieses Werk des
unangepaßten Berliner Komponisten nicht
gnadenlos harter Ausdruck eigener seelischer
Erschütterungen und Hoffnungen; es ist nicht
zuletzt ein verzweifelter Schrei und Mahnruf
gegenüber mancher Unempfindlichkeit angesichts
der überall lauernden Gefahren in unserer Welt.
Der aufrichtige, kompromisslose Komponist hat
eben gar nichts zu tun mit neuer simpler
Einfachheit, mit modischer Neoromantik oder
irgendwelchen Anbiederungsversuchen. Er hat
nie,im Gegensatz zu manchen erfolgreichen DDR-
Komponisten, die auch gern im Westen aufgeführt
wurden, liebedienerisch Staatsmusik geschrieben,
dieser schon von seinem Habitus her
außergewöhnliche Künstler…
Was es bei Chrisfried Schmidt zu entdecken gibt,
bewies unter anderem das von Irvin Arditti
achtzehn Jahre nach der Entstehung
uraufgeführte Violinkonzert während der ersten
gesamten Berliner Musik-Biennale 1991!
Erstaunlich, wie er berets 1973 seine eigene,
scharf ausgeprägte, schonungslos ehrliche
Sprache gefunden und in seinen eigenen vier
Wänden, ohne Aussicht auf eine Aufführung,
seine beunruhigende Zeitkritik formuliert hat. Von
diesem fanatischen Wahrheitssucher ist noch
einiges zu erwarten.
(In: Eckart Schwinger, Neue Zeit, Berlin
26.11.92)
Grelle Kontraste
Zurück zum Nonkonformismus
Christfried Schmidt zum 70. Geburtstag
“Ich habe jedenfalls immer das geschrieben, was
ich wollte, und ich hätte nie ein Stück
geschrieben, wenn man mir gesagt hätte: Du
musst das und das ideologisch, wie auch immer
verbrämt, reinbringen. Das hätte ich abgelehnt.”
Wer so spricht, der lässt sich nichts gefallen, der
isst lieber trockenes Brot, als sich zu verkaufen.
Bis heute geht Christfried Schmidt unverdrossen
seinen Weg, was allein Respekt abnötigt, und bis
heute hat der Konflikt zwischen Neuer Musik und
Publikum, den er an Leib und Werk spürt, sein
Künstlertum nicht ernsthaft beschädigen können.
Schmidt fing als Kirchenmusiker und
komponierender Autodidakt an. Die ersten
Arbeiten waren an die hundert Lieder mit Texten
quer durch den Literaturgarten, darunter Hesses
Musik des Einsamen. 1965 entstand das große
Oratorium Mahnmal wider die Gewalt. Es folgten
zwei Sinfonien: Hamlet-Sinfonie, Sinfonie In
Memoriam Martin Luther King; beide sind noch
ungespielt. Seine gleichfalls unaufgeführte
Markus-Passion beendete der Komponist 1974.
Zwischen 1965 und 1974 blieb Schmidt in der
DDR ohne Aufführung und Auftrag. Stattdessen
spielte man ihn fröhlich in Tokyo und verlieh ihm
einen Kompositionspreis in Nürnberg. Der DDR-
Rundfunk entkrampfte die Situation etwas, indem
er 1973 sein Klavierkonzert produzierte. In der
Kammermusik ermöglichte das Staatsopern-
Bläserquintett Berlin 1974 den Einstieg mit der
Uraufführung seines Bläserquintetts (1971).
Nichts liegt näher, als seine bisher elf
durchnummerierten, wechselnd besetzten
Kammermusiken, erfunden im letzten Viertel des
vergangenen Jahrhunderts, neu - oder wieder zu
entdecken. Das ganze Konvolut dieser
Kammerstücke steht - wie die übrige Musik
Christfried Schmidts - im Zeichen der Treue zum
seriell variantenreich organisierbaren Material.
Auf Mannigfaltigkeit in Harmonik und Rhythmik,
auf expressiver Gestik und Gebärde, auf
gewichtigen Termini der Polyphonie basiert der
Gehalt dieser Musik. Der Künstler, angetreten,
über die Möglichkeiten neuer Musik von sich und
der Welt aufs Persönlichste Kunde zu geben,
verbindet darin Strenge der Formulierung und
technischen Anspruch mit spontanem
Musizierwillen.
In den Kreis vokal-instrumentaler
Kammermusiken gehört der Psalm 21 (Text:
Ernesto Cardenal). Das Stück erlebte seine
Premiere 1971 in Nürnberg und gehört, wer
immer das anders sehen mag, in die Reihe der
eindringlichsten engagierten Werke im 20.
Jahrhundert. Leider wissen die wenigsten von
diesem klangharten, vital-expressiven Anti-
Gewalt-Stück.
Als dem Outsider nach der Wende - etwa bei der
Uraufführung seines Violinkonzerts 1991 im
Schauspielhaus Berlin - heftig akklamiert wurde,
hatte bereits die Währung gewechselt. Die
Marktwirtschaft, so überhastet wie schlecht
installiert und ohnedies kunstfeindlich,
desorganisierte nun auch den ostdeutschen
Musikbetrieb, und die frisch eingepflockten neuen
Eliten, meist zweite Garnitur, schienen im
unbekannten Gelände niemand weiter zu kennen
als sich selbst und ihre Favoriten aus dem
Westen.
Schmidt hat derlei Vorgänge anfänglich begrüßt.
Doch bald dämmerte es, denn die neuen Eliten
verhielten sich nicht viel anders als die alten.
Schmidt wurde wie einst in den Sechzigern
wieder geschnitten. Zählte der Mann nach der
"Wende" kurzzeitig zu den maßgeblichen
deutschen Komponistenpersönlichkeiten, war
dieser Ruf rasch wieder verflogen. Die
Orchestermusik III, Auftragswerk der Komischen
Oper Berlin, liegt beispielsweise seit 1992 in der
Schublade. Spätestens Mitte der neunziger Jahre
erschien der Komponist wieder ganz auf sich
gestellt und fiel, wie viele seinesgleichen, unter
neuen Vorzeichen in die alte nonkonformistische
Rolle zurück. - Das mag auch daran liegen, dass
Künstler wie er, die alles Modische ablehnen und
denen der ganze
Oberflächenundeutlichkeitskrimskrams der
Postmoderne ein Greuel ist, heute so wenig
integrierbar sind wie gestern.
Schmidt wäre nicht Schmidt, wenn er nicht
schimpfen würde. Verhältnisse unmöglich zu
machen, das ist eine seiner kreativen Tugenden.
Das geht nicht immer gut aus, sicher. Aber
aufregend ist es allemal, wenn er jenes
Musikervolk attackiert, das seine Stücke
leidenschaftslos und schlampig aufführt. Verhasst
sind ihm insbesondere bequeme, generöse
Konzerthörer, die, statt mit den Ohren zu
begreifen, alle Musik verpennen; nicht minder die
Ignoranten, welche an den Pulten stehen und in
den Instanzen rumlungern; Personal, das nicht
erkennen will, was an Gehalt und Brisanz in
seinen Partituren steckt und sie deswegen achtlos
beiseite schiebt. Wenn der Fluchende darüber
erbost und traurig ist, dann sind die, die mit ihm
fühlen, auch erbost und traurig.
Glück? Als Komponist? Durchs Küchenfenster
seiner Wohnung im Prenzlauer Berg sieht man auf
der gegenüberliegenden Front einen Riesenfleck
Weinblätter. Die hat er einst angepflanzt, sagt er
stolz, und nun bedecken sie fast die ganze
Hinterhofwand, worüber er sich natürlich sehr
freue. Seine Orchestermusik I, Beginn einer
Serie, die unterdes bei der Nummer V ist,
markiert in anderer Art ein weit verzweigtes,
wucherndes Gewächs. So war dieser Tage ein
Hoffnungsschimmer, dass endlich Memento, 1.
Teil, für Orchester im Gewandhaus Leipzig kam.
Dirigent Fabio Luisi, er führte die Partitur mit dem
MDR-Sinfonieorchester leidenschaftlich auf, hat
erkannt, dass von Schmidt Bedeutendes vorliegt
und allemal noch zu erwarten ist.
(In: Stefan Amzoll, Freitag Nr. 48 vom 22.11.02)
Schmidts aufwühlendes “Memento, 1.
Teil” und Schönbergs “Überlebender
von Warschau”
Uraufführungen von Orchesterwerken sind
selten geworden. Auch beim MDR-
Sinfonieorchester, das unter Fabio Luisi zum
Entdeckermut Herbert Kegels zurück findet.
Mehrere Anläufe führten jetzt zur höchst
eindrucksstarken Uraufführung des Memento,
1. Teil von Christfried Schmidt, dem das
Orchester in den siebziger und achtziger Jahren
Anerkennung verschaffte.
Das 1999 im Auftrag des MDR entstandene
Werk klingt noch herber, härter, unerbittlicher
als die 1983 vom Orchester unter Christian
Kluttig uraufgeführte Munch-Musik und manch
andere Komposition des am 26. November 70
werdenden Komponisten. Es reflektiert die
Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Die für den
ersten Teil gewählte Überschrift „Schicksal"
weist auf die unweigerliche Verkettung des
persönlichen Schicksals mit dem historischen
Geschehen. Der zweite Teil „Der Menschen
Irrsinn und Ruchlosigkeit" wird von der Gewalt
der furchtbaren Ereignisse von 1914-1945
beherrscht und zerfurcht und im
abschließenden dritten Teil „Unser wehes Land"
kommt nach den Worten des Komponisten „das
Desaster danach zur Sprache, an dessen
Nachwirkungen wir auch im neuen Jahrtausend
noch knabbern". Zwangsläufig führen solche
Gedanken über weite Strecken zu einem
kompakten Orchesterklang und
Klangsteigerungen von berstender Gewalt.
Doch dabei vermag der Komponist durchaus zu
differenzieren und variieren, das Blickfeld zu
verändern. Solistische Abschnitte schaffen
Atempausen, führen zu zarten Wendungen, die
inmitten infernalischer Vorgänge Sehnsucht
nach Menschlichkeit, nach Zartheit, nach Liebe,
nach Unbeschwertheit aufscheinen lassen. Es
sind Wendungen, die Christfried Schmidt als
ausgesprochen sensiblen Künstler zeigen, der
an all den Furchtbarkeiten des 20. Jahrhunderts
leidet und sie überwunden sehen möchte.
Das 2. Konzert „Zauber der Musik" mit diesem
Werk zu eröffnen, war ein Wagnis. Doch Fabio
Luisi weckte besondere Aufmerksamkeit, indem
er nicht nur einführende Worte sprach, sondern
zunächst charakteristische Ausschnitte mit dem
Orchester anspielte. Die Einsatzfreude des
Dirigenten und Orchesters, die Eindringlichkeit
des Musizierens erreichten eine nachhaltige
Wirkung. Nach Franz Liszts sinfonischer-
Dichtung „Tasso. Lamento und Triumpf" erklang
noch Ferruccio Busonis selten zu hörendes,
zuletzt 1986 unter Horst Neumann im „Zauber
der Musik" aufgeführtes Klavierkonzert mit
abschließenden Männerchor op. 39 mit Carlo
Grante als großartigen Komponisten. Vieles
klingt in diesem 70-Minütigem, 1904
uraufgeführten Werk durchaus vertraut. Und
doch fand Busoni von der Tradition des 19.
Jahrhunderts ausgehend zu einer eigenen
Klangwelt, die ihn von seinen Zeitgenossen
Mahler, Debussy, Strauss, Pfitzner Skrjabin,
Reger unterscheidet. Von ihm bleibt noch
Manches zu erschließen.
Auch im 1. Chorkonzert der Spielzeit ließ Fabio
Luisi Außergewöhnliches erklingen: Arnold
Schönbergs Melodram Ein Überlebender von
Warschau war zwischen Ludwig van Beethovens
achter Sinfonie und Messe C-Dur mit
Maximilian Schell als Sprecher und dem
Rundfunk-Männerchor zu erleben. Im Verhältnis
zur komplexen Sicht Christfried Schmidts auf
das 20. Jahrhundert lässt dieses erschütternde
Werk eines der furchtbarsten Ereignisse des
Zweiten Weltkriegs auf der Grundlage eines
authentischen Berichtes zwingend nacherleben.
Die aus den Katastrophen des 20. Jahrhunderts
erwachsene dissonante Tonsprache findet in
diesem Werk ihre entschiedenste Begründung.
Seltenes war auch in der Hochschule für Musik
und Theater zu hören. Der 125. Geburtstag des
Komponisten und Hochschullehrers Sigfrid
Karg-Elert war Anlass zu Kursen und Konzerten
der Karg-Elert-Gesellschaft im Großen Saal der
Hochschule. Sie boten Ausschnitte aus einem
vielgestaltigen Werk. Da findet sich
Romantisches, auch der Salonmusik
Zuneigendes neben Experimentallem, das bis
an die Grenze der Tonalität führt, immer von
urwüchsiger Musizierlaune durchpulst
(In: Werner Wolf, Leipzigs Neue 01.11.2002)
Memento von Christfried Schmidt
"Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus
dem wir nicht vertrieben werden können". Dieser
berühmte Ausspruch Jean Pauls trifft nur bedingt
zu; denn je nach persönlicher Situation,
abhängig vom individuell Erlebten, kann die
Erinnerung auch zur Hölle werden, zum Ort
traumatischer Bedrohung. In seinem Werk
"Memento" für großes Orchester thematisiert
Christfried Schmidt, verbunden mit dem
Andenken an seine Mutter, die großen Leiden des
vergangenen Jahrhunderts. Kompromisslos
konfrontiert er den Hörer mit der Gewalt
menschlichen Schmerzes. Nur hin und wieder
blitzt Ironie auf, fast wie ein Schutzreflex. Das
knapp halbstündige, dreiteilige Werk verstört
durch heftig aufeinander prallende Kontraste im
Bereich der Dynamik und der Satztechnik, aber
auch der Instrumentation. Längere Phasen in
eher flächigem Satz wechseln mit filigraner
Linearität, massive Klangballungen mit eher
durchsichtigen Solopassagen, Ausbrüche tiefsten
Leids mit etwas zurückgenommenen Momenten.
Doch nicht nur im zeitlichen Nacheinander, auch
simultan werden Gräben aufgerissen, so zum
Beispiel, wenn gegen Ende des Werks extrem
hohe Töne der Violine der Tiefe der Kontrabässe
entgegen gestellt werden. So vielfältig die Mittel
sind, derer Schmidt sich bedient, so originell
weiß er sie einzusetzen, sie in immer neue
Kontexte einzubinden, wodurch sich ständig
neue Ausdrucksdimensionen erschließen.
Das MDR Sinfonieorchester unter der Leitung
von Fabio Luisi hebt die Auftragskomposition mit
großem persönlichen Einsatz aller Beteiligter aus
der Taufe und bereitet damit nicht nur dem
Komponisten einen großen Gefallen. Luisi mit
seinem ebenso konzentrierten wie emotionalen
Zugriff, die durchweg überzeugenden Soli, die
exzellente Schlagzeuggruppe - sie alle bieten
dem Werk beste Voraussetzungen für eine
unmittelbare, durchschlagende Wirkung im
Sinne Christfried Schmidts.
Viel wichtiger noch als diese rein musikalischen
Elemente scheint mir das große persönliche
Engagement des Komponisten, seine Ehrlichkeit
und humanistische Grundhaltung, welche der
Musik Bekenntnischarakter verleihen und den
Eindruck erwecken, sie sei einem inneren Zwang
abgerungen. Vergleichbar ist Christfried Schmidt
hierin vielleicht dem schwedischen Sinfoniker
Allan Pettersson, für den seine Musik wohl
Krankheit und Therapie zugleich war. Ebenso wie
Petterssons Werke verlangt "Memento" vom
Hörer einiges an Aufmerksamkeit und Geduld.
An einen Ausspruch des Künstlers Edvard Munch
angelehnt, sagt Schmidt, es gehe ihm mit seiner
Musik darum, den Menschen etwas zu geben,
was sie herausfordere und errege. Beim
Leipziger "Zauber der Musik"-Publikum hat er
dieses Ziel leider nicht erreicht. Es ist dem Werk
zu wünschen, dass es nicht bei dieser einen
Aufführung bleibt; denn Christfried Schmidts
Musik hat etwas zu sagen, das das Zuhören
lohnt
(In: Frank Sindermann, Leipzig-Almanach
27.10.2002)
Überraschung, Begeisterung
Christian Kluttig dirigierte Rundfunk-
Sinfonieorchester
Atemlose Stille des Publikums während der
Aufführung, sekundenlanges Schweigen vor
dem einsetzenden stürmischen Beifall sowie
das demonstrative Verharren der
Orchestermitglieder auf ihren Stühlen beim
Verbeugen des Dirigenten bezeichnen den
großen Erfolg von Generalmusikdirektor
Christian Kluttig im 2. Anrechtskonzert, Reihe
B, des Rundfunk-Sinfonieorchesters Leipzig.
Der Musikalische Oberleiter des Landestheaters
Halle und Chefdirigent des Händel-
Festspielorchesters war erst im Verlaufe der
Probenzeit vertretungsweise zu dem
renommierten Klangkörper gelangt und hatte
dessen anspruchsvolle Programmplanung
einschränkungslos akzeptiert. Wie er jedoch die
knapp halbstündige Uraufführung von
Christfried Schmidts „Munch-Musik”, Cesar
Francks „Sinfonische Variationen für Klavier
und Orchester" mit Annerose Schmidt als
Solistin sowie die geniale 6. Sinfonie von Peter
Tschaikowski gemeinsam mit den befeuerten
Musikern des Rundfunks meisterte, löste
Überraschung und Begeisterung aus. Ohne
Partitur auf dem Podest stehend, entlockte er
dem Orchester mit zwingenden Gesten
packende Kontrastwirkungen und erregende
Kantilenen in den Ecksätzen der Sinfonie,
führte er zu scheinbarer spielerischer
Leichtigkeit in dem tänzerischen rhythmisch-
metrischen Geflecht des zweiten sowie dem im
Zusammenspiel schwierigen Anfang des dritten
Satzes und steigerte die Ausdruckskraft
insgesamt von Satz zu Satz. Am Ende blieb der
Eindruck einer genau durchdachten, vital
umgesetzten Konzeption, die hier an die Stelle
von russischem Sentiment in großen Zügen
spannungsgeladene Gründlichkeit des Details
setzte, ohne den Gesamtzusammenhang zu
verlieren.
Mit dem Untertitel „Orchesterstücke nach
Graphiken von Edvard Munch" und den von da
übernommenen Zwischen Überschriften wie
„Zwei Menschen", „Eifersucht" oder „Der Kuß"
verweist der in Leipzig ausgebildete Wahl-
Berliner Christfried Schmidt nicht nur auf Bild-
Assoziationen aus dem Schaffen des
norwegischen Künstlers, sondern auch auf
Partnerbeziehungen schlechthin, so daß die
Kenntnis der graphischen Vorlagen für das
Verständnis der Musik nicht unabdingbar
notwendig erscheint. An Hand dieser
Überschriften und der ihnen im Programmheft
zugeordneten musikalischen Sachverhalte
sind die sieben Stücke sowie die jeweils von
Röhrenglocken markierten, verbindenden fünf
„Ritornelle" unschwer zu verfolgen. In dem
Wechselspiel kontrastierender Teile, die zu
einem zyklischen Ganzen gefügt sind, weiß der
Hörer stets, wo er sich befindet, zumal die
Musik durch bestimmte Klangfarbensymbole
und Intervall konstellationen, getrennt nach
Weiblichem und Männlichem die jeweilige
Grundsituation illustriert. Nicht unbegründet
beziehen sich deshalb der Autor der Einführung
und der Komponist selbst vergleichend auf
Mussorgskis „Bilder einer Ausstellung",
obwohl die musikalische Sprache Schmidts von
ganz anderen strukturellen Voraussetzungen
ausgeht. Der für ein neues Werk beachtliche
Applaus sollte Komponist und Hörer ermutigen,
sich weiter auf einander zuzubewegen!
Eine erfolgssichere Achse zwischen den beiden
Eckpfeilern des Abends bildeten die etwas
schwerblütigen Sinfonischen Variationen von
Cesar Franck. Souverän und einfühlend
widmete sich Annerose Schmidt den mit
Schwierigkeiten gespickten, wahrscheinlich von
der Orgel aus gedachten Passagen des Klaviers,
während Christian Kluttig das Orchester
schnörkellos und diszipliniert führte, so daß
seine Gesamtleistung ein baldiges Wiedersehen
im Neuen Gewandhaus erhoffen läßt.
(In: Christoph Sramek, ST, 26.10.1983)
Virtuos gespielte Kammermusik
…
Von den beiden Uraufführungen
hinterließ ein Vokalwerk Christfried Schmidts
(geb. 1932) die stärkere Wirkung: Mit seinem
"Ein Märchen - kein Märchen" für 12
Vokalisten will er an Hand einer Parabel, dem
Gedicht „Schwedisches Volksmärchen" von
Harry Martinson, dem er weitere
reflektierende Verse von Mörike, Hugo von
Hofmannsthal, Jessenin, Célan, Lenau und
Goethe zugeordnet hat, den Bemühungen der
Menschen im Alltag nachspüren. Das
geschieht sowohl im Sprachlichen wie im
Musikalischen außerordentlich eindringlich,
wenngleich der depressive Schluß keinen
Ausweg aufzeigt, aber zum Nachdenken
anregt. Christfried Schmidt fand für die
musikalische Gestaltung des Ganzen ein Idiom
von intensiver Expressivität. Die komplizierte
Struktur seiner Komposition, bei der er sich
einer großen Skala neuartiger vokaler
Ausdrucksmittel bedient, ist ganz dem
inhaltlichen Anliegen verpflichtet. Die Berliner
Solisten, dirigiert von Dietrich Knothe,
brachten das Stück mit ausgezeichnetem
Können zur Geltung.
...
(In: ND, gekürzt)
Anregungen und Berührungen
Das Berliner „Ultraschallfestival
untersucht Neue Musik aus
Ostdeutschland
Vor 60 Jahren entstanden die Bundesrepublik
und die DDR, vor 20 Jahren fiel die Mauer.
Grund genug, danach zu fragen, welche Rolle
die Künste in West, Ost und im
wiedervereinigten Deutschland spielten und
spielen. Das „Ultraschallfestival beschäftigte
sich mit Neuer Musik aus Ostdeutschland, mit
Kompositionen aus der Zeit vor und nach der
Wende. Es gibt sie, und fast staunt man
darüber: die Momente des Berührt-Seins auch
in der Neuen Musik. Als im Eröffhungskonzert
des Berliner „Ultraschallfestivals Christfried
Schmidts 1981 komponierte „Munch-Musik”
verklungen war, gab es Stille und Augenglanz,
die bei gegenwärtiger Musik die rare Ausnahme
sind. Sogar Dirigent Peter Rundel und das
Berliner Rundfunksinfonieorchester schienen
milde ergriffen. Spätestromantische
Innenschau als Fluchtreaktion angesichts der
höchst unpoetischen DDR-Welt? Nachlaufender
Schmerzens-Expressionismus, vielleicht als
Pendant zu einem „West"-Komponisten wie
Bernd Alois Zimmermann, den gerade die
Berliner Philharmoniker (wieder-) entdecken?
Man kann solche Musik, die nach 30 Jahren
noch „unzugehöriger" erscheint als bei ihrer
ersten Aufführung, leicht kleinreden - aber sie
ist und bleibt das, was sich viele Jüngere nicht
mehr getrauen (wollen): Sprache von Gefühlen,
die sich und uns bloßstellt und herausfordert
Schmidt, Jahrgang 1932, war schon im Osten
ein Außenseiter. Andere wie Georg Katzer,
Friedrich Goldmann, Paul-Heinz Dittrich,
Friedrich Schenker oder Reiner Bredemeyer -
damals innerhalb der DDR-Grenzen an- und
aufregend und auch im Ausland im Gespräch -
sind mehr oder weniger Außenseiter geworden,
was allerlei sarkastische Gedanken über die
Wechselwirkungen von Kunst, Markt und Politik
nahelegt Dass Musik bei ihnen allen direkte
Kommunikation meint, ist sicherlich ein Punkt,
der ihre so ganz verschiedenen Kompositions-
Temperamente einander annähert, aber seit
den Wendejahren vielleicht eher für Misstrauen
und Aufführungsabstinenz sorgt.
Eine ganze Reihe der knapp 30 Konzerte im
gemeinsam von Deutschlandradio Kultur und
RBB ausgerichteten „Ultraschallfestival gab
Gelegenheit zum Nachdenken, ob solche
Stimmen nicht genau das sind, was der
latenten Blutleere mancher aktuellen Neu-
Musikübung zu mehr Vitalität verhelfen könnte.
Jedenfalls fühlte sich ein gänzlich Ostalgie
unverdächtiges Publikum von den Beiträgen
angesprochen. Dabei war gleich, ob es sich um
Vorwende-Produktionen (wie Schmidts Stück)
oder um die gemeinschaftlichen
Memorialkompositionen Schenkers,
Bredemeyers und Goldmanns für Paul Dessau
handelte. Oder auch um solche aus den Jahren
danach wie bei Schenkers Posaunenstück
„Kommunizierende Röhren II" oder Steffen
Schleiermachers „Sisyphos" für Blechbläser und
Schlagzeug.
Die beiden Letztgenannten erklangen ebenfalls
im Eröffhungskonzert, und es war ihnen
gegenüber dann fast symbolisch, dass das
jüngste Stück, Carsten Hennings 2005
komponierte „Massen", - trotz des Titels -
Zersplitterung, Vereinzelung und Auskühlung
thematisierte. Aber zu mindest wurde hier
unmittelbare Emotionalität freigesetzt
Wie man den Weg ins Kollektiv-Einsame an
Grenzen treiben kann, zeigte Jakob Ulimanns
zehn Jahre alte „komposition für streichquartett
2": ein Werk des Verstummens und der Stille -
beeindruckend in seiner rigorosen Konsequenz.
(In: Sebastian Trunck, Die Rheinpfalz,
4.2.2009)
Moderne Psalmvertonung
Bei den DDR-Musiktagen in Berlin
erstaufgeführt:
(Berliner Solisten unter Dietrich Knothe
1982)
Bei den diesjährigen DDR-Musiktagen wurde
am 20. Februar im Apollo-Saal der Berliner
Staatsoper Christfried Schmidts „Psalm 21" auf
geführt, der nach einer poetischen Vorlage des
lateinamerikanischen Priesters und Dichters
Ernesto Cardenal entstand. Unmittelbar vor den
Musiktagen fand eine Konferenz des
Komponistenverbandes statt, deren Thema
„Unsere neue Musik im Leben unseres Volkes"
lautete. Zu den Delegierten gehörte der
Eisenberger Kirchenmusiker Helmut Zapf, der
uns freundlicherweise Informationsmaterial
über die Erstaufführung zur Verfügung stellte.
Radio DDR II sendete das Werk und führte mit
Schmidt ein Interview. In Weimar bot sich im
Anschluß an die Musiktage Gelegenheit zu
einem Gespräch mit dem Komponisten, der das
Werk vor 12 Jahren schuf. Christfried Schmidt,
der 1932 in Markersdorf (Oberlausitz)
geboren wurde und in Görlitz und Leipzig
Kirchenmusik studierte, lebt seit 1963 als
freischaffender Komponist in Quedlinburg und
Berlin. 1971 trat er ins „internationale
Rampenlicht", als sein „Psalm 21" anläßlich
des Dürer-Jahres bei der Internationalen
Orgelwoche in Nürnberg preisgekrönt und
uraufgeführt wurde. Da nach folgten
Funkproduktionen in der BRD, in Belgien,
Italien, Israel, Jugoslawien, Spanien, der
Schweiz und den USA.
„Ich suchte 1970", berichtet der Komponist,
„nach dem Text für ein Chorwerk. Da fiel mir
zufällig die Psalm-Adaption von Ernesto
Cardenal in die Hand, die ich dem Band
“Zerschneide den Stacheldraht” entnahm.
Hierbei geht es um Dinge, die leider Gottes in
unserer Welt noch viel zu oft passieren: um
Unterdrückung und Brutalität.
Cardenals Text geht auf den 22. Psalm zurück:
„Mein Gott, warum hast du mich verlassen?"
Dieser Satz klingt in Schmidts Komposition für
2 Soli, gemischten Chor, Orgel und
Instrumentalensemble immer wieder an. Er
erläutert: „Im 1. Teil schildert der Psalmist bzw.
der gepeinigte und geplagte Mensch, der sich
gegen die Gewalt wendet, daß er von seiner
Umwelt verhöhnt und verspottet wird. Im 2.
Teil werden die Mechanismen aufgezeigt, mit
denen sich heute vor allem Terror-Regimes an
der Macht halten, angefangen von Panzerwagen
über Folterkammern bis zur radioaktiven
Verseuchung. Im 3. Teil klingt Hoffnung auf,
daß diese Dinge in Zukunft nicht mehr
geschehen und die Armen dann ein Fest feiern
werden, vereint in Gerechtigkeit und Freiheit"
Christfried Schmidt ist eine Vertonung von
vibrierender Eindringlichkeit gelungen, die, so
betonte das „Neue Deutschland", „aktuelle
Mittel vielseitig und phantasievoll nutzt". Die
Überschrift des Konzertes lautete
„Wortmeldung". Das Publikum hörte den Ruf
des Psalmisten und zeigte sich tief beeindruckt.
Was die Menschen bewegt und berührt
…
Das aufrüttelndste Erlebnis des
Eröffnungskonzertes war für mich allerdings
das aus der Taufe gehobene Oboenkonzert von
Christfried Schmidt. Da artikuliert ein
Eigenwillirger seine Musik bei aller inhaltlich-
formalen Geschlossenheit mit einem seelischen
Aufruhr, einer starken Erregung und Stoßkraft
und ganz unalltäglicher, aufwühlender
Klangaufspaltung, die sobald nicht wieder
loslassen. Ein komponiertes Psychogramm, eine
Art Anti-Konzert aus scharf geschnittenem,
hartem Holz, in dem das massige, mächtige
Orchester mit seinen schrillen Klang attacken
und das einsam dastehende, ruhelos fragende,
sich vor wagende, aufbäumende
Holzblasinstrument aufeinanderprallen. Da
sind unheimlich leise, raunende Laute der Oboe
zu vernehmen, deren schmerzhaft verfremdete
Kantabilität, die zermalmende Wucht des
Orchesters, dessen elementare, wilde
Expressivität bis an die äußerste Grenze geht
und tief beunruhigt.
(In: Eckart Schwingern, Neue Zeit, 27.2.1984,
gekürzt)
Dann sing doch nach drüben
In der DDR musizierte man auch nicht
hinterm atonalen Mond: Nachklänge
beim Berliner Festival “Ultraschall”
…
Eines der stärksten Werke aus den achtziger
Jahren war im Radialsystem (einer
wilhelminischen Industriehalle am Ostbahnhof)
beim Eröffnungskonzert mit dem Rundfunk-
Sinfonieorchester Berlin unter Peter Rundel zu
hören: die „Munch-Musik" von Christfried
Schmidt. Nach acht Grafiken von Edvard Munch
hat Schmidt hier 1981 einen halbstündigen
Reigen von groß besetzten Orchesterstücken
geschaffen, die auf eine einzige Zwölfionreihe
rückführbar sind. Doch Schmidt öffnet die
verwaltete Welt einer abgezirkelten
Zwölftontechnik wieder für die mitreißend
flutende Sinnlichkeit jener freien Atonalität, wie
es sie vor dem Ersten Weltkrieg gegeben hatte.
Schon die ersten Linien von Bassklarinette und
Solocello evozieren Intimität und Einsamkeit.
Von der Last des Begehrens und dem Schmerz
erotischer Verletzungen zu erzählen, schämt
sich die Musik an keiner Stelle und ist darin den
gegenwärtigen Werken des global erfolgreichen
Harrison Birtwistle mindestens ebenbürtig an
die Seite zu stellen. Für Schmidt allerdings, der
heute sechsundsiebzigjährig in Berlin,
Prenzlauer Berg lebt und schreibt, war dies erst
die zweite Aufführung eines Orchesterwerks in
den letzten zwanzig Jahren. Er hat das
hingebungsvolle, klangschöne Spiel der
Rundfunksinfoniker und den eindrucksvollen
Jubel des Publikums sichtlich bewegt auf
genommen.
(In: Jan Brachmann, FAZ, 26.01.2009)
EXILANTEN DES BETRIEBS
Viele Komponisten aus der DDR
werden 25 Jahre nach dem Fall
der Mauer kaum mehr aufgeführt.
Stehen sie doch einmal auf dem
Spielplan, führt man sie gern wie
wunderliche Exponate im
«ästhetischen Zoo» vor.
Ein überfälliger Zwischenruf
Im November 1989 feierte Christfried Schmidt.
Nein, nicht weil die Mauer fiel. Obwohl er nichts
dagegen hatte; er begrüßte die sogenannte
Wende durchaus. Kaum ein Komponist nämlich
dürfte den schikanösen Doppelsinn des
Vermerks «Wohnhaft in der DDR»
schmerzhafter erfahren haben als er. Jahrelang
wurde seine Musik daheim nicht gespielt; seine
Aufnahme in den Komponistenverband zog sich
zäh hin. Die ersten Uraufführungen hatte er
1970 in Tokio und 1971 in Nürnberg, ohne dass
er dabeisein durfte. Aber von seinen Kollegen,
die längst in den Westen gereist waren, von
Friedrich Goldmann oder Paui-Heinz Dittrich, er
fuhr er auch, warum sie immer wieder
zurückkamen in ihr enges, muffiges Land: "Die
haben gemerkt, wie hart das ist im Westen
Aufführungen zu bekommen, wie man da
Klinken putzen muss bei Intendanten,
Rundfunkredakteuren und Orchesterdirektoren.
In der DDR war das einfacher; da wurden sie
gespielt" Im November 1989 feierte Christfried
Schmidt in Berlin-Prenzlauer Berg, weil endlich
seine Oper fertig war: "Das Herz", nach einer
Novelle von Heinrich Mann. Drei Jahre hatte er
daran gearbeitet. Mitte der 80er-Jahre war er
auf den zwölfseitigen Prosatext gestoßen, den
Heinrich Mann 1910 innerhalb von acht Tagen
in Florenz geschrieben hatte. Die kurze
Geschichte einer intensiven Liebe zwischen
Mann und Frau, die an Intrigen und seelischer
Entfremdung zerbricht. Keine Staatsaktion,
sondern eine intime Tragödie als große Oper.
Schon mit seiner "Munch-Musik" für Orchester
nach acht Grafiken von Edvard Munch hatte
Schmidt 1981 bewiesen, dass er das
Verhängnis des Begehrens packend gestalten
konnte. Nun, für «Das Herz», hatte Bernd
Schremmer ihm, versiert und knapp, das
Libretto geschrieben. Schmidt fragte bei der
Komischen Oper Berlin, bei der Staatsoper
Unter den Linden, in Leipzig und in Dresden -
überall wurde abgewinkt. Man wollte das Stück
nicht.
...
Während in der Literaturkritik die Bezeichnung
"DDR-Schriftsteller" in den letzten Jahren aus
der Mode gekommen ist und man Christa Wolf,
Stefan Heym oder Christoph Hein genau so
"deutsch" nennt wie Günter Grass, Heinrich Böll
oder Martin Walser, so bleibt im Bereich der
Musik die DDR noch immer eingemauert. Die
Komponisten sind Exilanten des Betriebs.
Zwanzig Jahre nach dem Mauerfall setzte
Ultraschall, das Berliner Festival für neue
Musik, seinen Schwerpunkt bei den
Komponisten der ehemaligen DDR. Endlich
konnte man auch Schmidts "Munch-Musik"
wieder hören, die überregionales Erstaunen
auslöste. Das war einerseits schön,
andererseits auf schlimme Weise bezeichnend:
Ein Festival mit dem Schwerpunkt "BRD-
Komponisten" würde niemand veranstalten.
Obwohl hier 2009 Gutes gewollt wurde, hat
man einmal mehr die DDR als "ästhetischen
Zoo" präsentiert, wie es Siegfried Gohr boshaft
bei der Kunstaussteilung "60 Jahre, 60 Werke"
formulierte. Seit die 1967 in Ostberlin
gegründete Musik-Biennale im Jahr 2002 durch
die Maerzmusik ersetzt wurde, haben
Komponisten aus der DDR kein verlässliches
Podium für ihre Werke mehr. Man kann deutlich
beobachten, dass sicht- und hörbar nur blieb,
wer über institutionelle Bindungen verfügte, am
besten in Form einer Dozentur an einer
Hochschule.
Christfried Schmidt hatte 1986 die Zusage des
Deutschen Nationaltheaters in Weimar
erhalten, die Uraufführung seiner Oper
einzuplanen. Nach Vorlage der fertigen Partitur
erhielt er am 1. März 1990 die definitive
Absage: Das Werk sei so fordernd, dass es
probenökonomisch den Betrieb sprengen
würde. Als Agent in eigener Sache bot er "Das
Herz" 15 Opernhäusern zur Uraufführung an:
Mannheim, Karlsruhe, Düsseldorf, Hannover,
München, Essen, auch Klaus Zehelein in
Stuttgart. Meistens erhielt er nicht einmal eine
Antwort. Seine "Kammermusik XI", als
Auftragswerk der Berliner Festspiele 1995 für
das Ensemble Modern entstanden und diesem
gewidmet, liegt seit 19 Jahren ungespielt in der
Schublade. Wie Paul-Heinz Dittrich bekommt
auch Schmidt immer wieder zu hören, seine
Musik sei zu schwierig. Beider Werke stellen
dem Betrieb weitaus größere Widerstände
entgegen als die mittlerweile vollintegrierten
«Störfälle» eines Helmut Lachenmann. Kürzlich
übergab Schmidt, der im November 82 Jahre
alt wird, das Libretto von "Das Herz" an Achim
Freyer. Der nämlich interessiert sich dafür.
(In: Jan Brachmann, Opernwelt Nr. 11,
November 2014, gekürzt)